UNSTATISTIK VOM 28.07.2017: Quote ist nicht gleich Quote

(PM) Quote ist nicht gleich Quote: Die Unstatistik Juli ist die Berichterstattung über das Thema „Frauen in Führungspositionen“ Anfang des Monats, beispielsweise auf welt.de („SPD droht mit Ausweitung der Frauenquote“). Ursache dieses Interesses waren neben neuen Studienergebnissen insbesondere eine gemeinsame Pressekonferenz von Bundesfamilienministerin Katarina Barley und Bundesjustizminister Heiko Maas, in der eine erste Bilanz des im Mai 2015 in Kraft getretenen „Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen“ gezogen wurde. Dieses Gesetz sieht für börsennotierte und mitbestimmungspflichtige Unternehmen eine feste Quote von 30 Prozent Frauenanteil für neu zu besetzende Aufsichtsratsposten vor. Sowohl die Vertreter der Bundesregierung als auch die Medien berichteten, dass dieses Ziel nahezu erreicht sei, da der Frauenteil in den betreffenden Aufsichtsräten von 25 Prozent im Jahr 2016 auf aktuell 28,1 Prozent gestiegen sei.

Doch die Aussage, dass die bis 2020 zu erfüllende Frauenquote in Aufsichtsräten fast schon erreicht ist, ist falsch. Vielmehr liegt bis zur Zielerreichung wahrscheinlich noch ein langer Weg vor uns. Wo liegt der Fehler? Die gesetzlich festgelegte Quote gilt tatsächlich nicht, wie obige Aussagen vermuten lassen, für die Aufsichtsräte als Gesamtheit, sondern für jedes einzelne Unternehmen. Der Anteil der Frauen an allen Aufsichtsräten der betroffenen Unternehmen liefert damit keinerlei Aufschluss über die Zielerreichung des Gesetzes. Hierfür müsste man vielmehr den Anteil derjenigen Unternehmen betrachten, die diese Quote erfüllen. Die auf der Homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) veröffentlichten Daten zeigen, dass aktuell nur 51 der 105 (also knapp 49 Prozent) gelisteten Unternehmen die 30-Prozent-Quote bereits erfüllen (s. https://www.bmfsfj.de/quote/daten.html). Dabei verdeutlicht das Ministerium zwar die Gesamtentwicklung des Frauenanteils in Aufsichtsräten zwischen 2015 und 2017 in einer schön animierten Graphik. Die eigentlich relevante Zahl – die Entwicklung der Anzahl der Unternehmen, die die 30%-Quote erfüllen – lässt sich mit den zur Verfügung gestellten Daten jedoch nicht nachvollziehen.

Jetzt mal richtig gerechnet oder: Einfach nur der Mittelwert

Wenn alle Unternehmen inzwischen 28,1 Prozent Frauenanteil im Aufsichtsrat hätten, dann wäre die 30-Prozent Quote auch wirklich in greifbarer Nähe. Jedoch lebt diese Zahl von jenen Unternehmen, welche bereits einen sehr hohen Anteil haben, was das Problem bei vielen anderen verdeckt. Beispielsweise hat Bilfinger eine Frauen-Quote von 50 Prozent (sechs Frauen von zwölf), während Porsche eine Quote von 0 Prozent (0 Frauen von 12) hat.

Fazit: Eine mittlere Quote ist eben nur ein Mittelwert.

———-

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Thomas K. Bauer,                    Tel.: (0201) 8149-264
Sabine Weiler (Pressestelle RWI),          Tel.: (0201) 8149-213

Für seine Anregung zu dieser Unstatistik ein herzliches Dankeschön an Herrn Johannes Henke von der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de .

Werbung

AKTUELLE MELDUNG ZUR DIAGNOSE „ANHALTENDE TRAUERSTÖRUNG“

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pallativmedizin zur Einführung der Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung in der ICD-11: Die WHO plant mit der Neufassung ICD die Einführung der Diagnose einer „anhaltenden Trauerstörung“, um trauernden Menschen, welche so schwer betroffen sind, dass eine Störung mit Krankheitswert vorliegt, sowohl in Bezug auf die Anerkennung der Diagnose als auch in Bezug auf Zugang zu einer fachgerechten und von den Kostenträgern finanzierten Behandlung gerecht zu werden. Dieses Vorhaben hat teilweise kritische Reaktionen hervorgerufen. Es werden Bedenken formuliert, ob es wissenschaftlich zu rechtfertigen sei, eine Form von Trauerreaktion als Störungsbild zu definieren, dass eine solche Diagnose zu Pathologisierung von Trauer allgemein führen könne, dass dadurch eine Normierung von Trauer entstehen könne und dass sich dies auf den Umgang mit „normal Trauernden“ auswirken könne.

Als wissenschaftliche Fachgesellschaft, die durch Multiprofessionalität geprägt ist, möchte die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin dieses Thema sachlich und wissenschaftlich fundiert unter Einbeziehung der unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Berufsgruppen bewerten.

Normalität von Trauer in der Gesellschaft stärken

Unabhängig von der Einführung einer spezifischen Trauer-Diagnose gilt es, in gesellschaftlicher Hinsicht nicht nur Tod und Sterben, sondern auch Trauer zu enttabuisieren. Der Stellenwert von Trauer in einer funktionalistischen, technisierten und individualisierten Gesellschaft soll gestärkt werden. Trauernde sollen wieder einen Platz in dieser Gesellschaft bekommen – ohne Berührungsängste, mit Verständnis, Würdigung und Fürsorglichkeit.

Trauer braucht Zeit und Raum – die meisten trauernden Menschen durchlaufen diese Zeit und diesen Raum mit Unterstützung und in Begleitung von Familienangehörigen und Freunden. Andere finden in der Trauerbegleitung in ihren vielfältigen Formen durch Ehrenamtliche und Hauptamtliche oft wirkungsvolle Unterstützungsmöglichkeiten.

Trauer stellt eine natürliche Reaktion dar: Sie ist eine menschliche Kompetenz, eine normale und hilfreiche Emotion, der Akzeptanz, Wertschätzung und Unterstützung seitens der Gesellschaft zusteht. Allerdings kann Trauer auch so schwerwiegende und stark belastende Folgen haben, dass der Trauerprozess dann in eine Störung einmünden kann, die einer therapeutischen Unterstützung bedarf.

Der Diskurs über Normalität und Krankheit in Bezug auf Trauer

Aus Sicht der DGP lässt sich Trauer deshalb nicht kategorisch als normal beschreiben und grundsätzlich von „psychischer Krankheit“ abgrenzen. Es gibt Formen des Trauerns, die sich – ebenso wie anderes Erleben und Verhalten – extrem dysfunktional in Bezug auf die Lebensführung auswirken können. In den Krankheits-Klassifikations-Systemen (DSM und ICD) wird bei solch ausgeprägter Dysfunktionalität von einer „psychischen Störung“ gesprochen und eben nicht von „psychischer Krankheit“. Diese Begrifflichkeit bringt zum Ausdruck, dass nicht der betroffene Mensch insgesamt als krank verstanden wird, sondern Ausprägung und Form seines Erlebens und Verhaltens in Bezug auf bestimmte Inhalte mit einer selbstbestimmten und der Gesundheit zuträglichen Lebensführung nicht mehr vereinbar sind, er in seinem Lebensfluss mithin „gestört“ ist. Im Gegensatz zum „psychisch Kranken“ ist der „Mensch mit psychischer Störung“ nicht qualitativ unterschieden vom „gesunden“ Menschen.

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zur Einführung der Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung in der ICD-11 (Stand: Juli 2017)

Eben dieses Verständnis von „psychischer Störung“ ist allerdings in weiten Teilen unserer Gesellschaft wohl weniger etabliert. Immer noch ist die Angst weit verbreitet als „nicht normal“ zu gelten. Die Diagnose einer psychischen Störung und deren Behandlung werden daher oft tabuisiert.

Wenn auch das Bestreben, den gesellschaftlichen Stellenwert von Trauer zu stärken, richtig und wichtig ist, zielt der Weg dies immer durch Abgrenzung von vermeintlich „wirklich“ krankhaften Zuständen vorzunehmen in eine falsche Richtung. Statt Trauer undifferenziert kategorisch als „gesund“ zu bezeichnen, gilt es, die oft negativ stigmatisierende Bewertung und Einordnung psychischer Störungen per se zu hinterfragen.

„Trauerstörung“ in der Forschung

Auch wenn die Gefahr der Pathologisierung von Trauer unter Trauerforschern kontrovers diskutiert wird, besteht doch weitgehend Einigkeit darüber, dass es Trauerverläufe gibt, die dysfunktional und somit auch behandlungswürdig sind. Die verwendete Begrifflichkeit ist zwar uneinheitlich (pathologische Trauer, komplizierte Trauer, verzögerte Trauer, anhaltende Trauer, traumatische Trauer, Risikotrauer), aber es gibt eindeutige Hinweise für die Sinnhaftigkeit und Klarheit eines abgegrenzten Störungsbildes einer „komplizierten Trauer“. Denn diese unterscheidet sich klar von den Störungsbildern der Depression und von Angststörungen (Prigerson, 1996).

Die momentan angestrebte Bezeichnung „anhaltende Trauerstörung“ mag zu einer Fehlinterpretation verleiten: Damit ist nicht gemeint, dass jede länger anhaltende Trauer eine psychische Störung ist!

In Hinblick auf die Einführung der Diagnose in die ICD-11 ist eine Studie von Prigerson et al. (2009) relevant, in welcher die Diagnosekriterien erarbeitet wurden. Die Studie wurde gemeinsam mit etlichen namhaften internationalen Trauerforschern durchgeführt, die Ergebnisse finden somit breiten Konsens in der Trauerforschung. Die Kenntnis dieser Studie ist hilfreich, um Missverständnisse aufzuklären, die in der aktuellen Diskussion immer wieder in der Argumentation auftauchen. Zwei Aspekte sollen kurz erläutert werden:

1. Das Leitsymptom „Sehnsucht“ wird als brennendes Verlangen, als Ausdruck tiefen Trennungsschmerzes beschrieben. Es muss täglich auftreten bzw. das Leben deutlich beeinträchtigen und zwar über eine sehr lange Zeit hinweg. Der Stellenwert als Leitsymptom ergab sich aus den statistischen Analysen: Der Zusammenhang zwischen Trennungsschmerz und komplizierter Trauer war durchweg sehr hoch.

2. Das Zeitkriterium von mindestens 6 Monaten bedeutet nicht, dass jede Trauer, die länger als sechs Monate andauert, als pathologisch einzustufen sei. Sondern, dass diejenigen, die nach 1–2 Jahren eine sehr hohe Belastung aufweisen, frühestens sechs Monate nach dem Tod durch Tests zur Risikoeinschätzung zur Entwicklung einer komplizierter Trauer „herausgefiltert“ werden können. In den ersten sechs Monaten nach einem Todesfall kann also anhand der geschilderten Symptome nicht differenziert werden, wer langfristig mit einem hohen Risiko für komplizierte Trauer behaftet ist.

Kritisch soll angemerkt werden, dass es weitere Forschung braucht – etwa mit verwaisten Eltern, trauernden Kindern und Trauer, die zurückliegende Traumata wieder reaktiviert -, um das Zeitkriterium in Hinblick auf seine Allgemeingültigkeit zu überprüfen. Insgesamt muss Trauerforschung in Deutschland intensiver betrieben werden.

Die Diagnose in der Praxis

Wenn sich ein trauernder Mensch dafür entscheidet, professionelle psychotherapeutische Hilfe aufzusuchen, gibt es bislang keine angemessene Diagnose, mit der Komplikationen im Rahmen eines Trauerprozesses für den Antrag der Kostenübernahme durch die Krankenkassen speziell fachlich begründet (und kodiert) werden können. Stattdessen wird wohl meist eine Anpassungsstörung oder eine depressive Störung diagnostiziert. Oder die Betroffenen nehmen von vornherein privat bezahlte therapeutische Angebote in Anspruch, da sie sich in den anderen Diagnosen nicht wiederfinden. Die Möglichkeit einer spezifischen Diagnose wird denjenigen, die professionelle Hilfe im Rahmen ihrer Trauer benötigen und auch in Anspruch nehmen wollen, den Weg hierzu erleichtern.

Nur wenn Betroffene das Hilfesystem aufsuchen, kann eine entsprechende Diagnose gestellt werden. Bei Trauernden, die nicht das professionelle Hilfesystem (z.B. ambulante Psychotherapie) aufsuchen, kann diese Diagnose nicht gestellt werden. Sie können also auch nicht 6 Monaten nach Verlust des bedeutsamen Menschen pauschal vom Gesundheitssystem in ihrer Trauer pathologisiert werden.

Im Behandlungssystem selbst wird eine Diagnose „anhaltende Trauerstörung“ dafür sorgen, dass Wissen und Praxis über die psychotherapeutisch wirksame Behandlung dieser Störung systematisch in der Ausbildung von Psychotherapeuten verankert wird. Außerdem werden vermehrt spezifische Therapieformen entwickelt und evaluiert werden.

Vermeidung von Fehldiagnosen und falschen Behandlungen

Die Kriterien für die Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung sind sehr hoch angesetzt und klar formuliert. Es wird nur einen relativ geringen Anteil an Trauernden geben, die diesen Kriterien entsprechen. Die aktuelle Forschung geht von einem Anteil von ca. 3% der Trauernden aus. Wie bei allen anderen Diagnosen braucht es allerdings Kenntnis der Diagnosekriterien und sorgfältiges Vorgehen seitens der Behandler. Auch die Empfehlung bzw. Anwendung präventiver Diagnostik und adäquater Interventionsformen obliegt im Falle einer anhaltenden Trauerstörung der Verantwortung der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten.

Die DGP weist darauf hin, dass Ärzte und Psychotherapeuten in der Verantwortung stehen, sich mit Ein- führung der Diagnose der anhaltenden Trauerstörung sowohl umfassend über „normale“ Trauer zu infor- mieren als sich auch mit „komplizierter“ Trauer und derer adäquater Behandlung fachlich auseinanderzu- setzen, sich zu qualifizieren und entsprechende Angebote bereitzustellen.

Trauerbegleitung als maßgeblicher Baustein der Prävention

Die DGP unterstreicht die Wichtigkeit und Wirksamkeit von Trauerbegleitung, welche von unterschiedli- chen Berufsgruppen sowie von geschulten Ehrenamtlichen geleistet wird. Sie verdient jede hilfreiche Form gesellschaftlicher Unterstützung und Anerkennung. Dieses Angebot muss weiter ausgebaut, bekannter gemacht und mit der Palliativversorgung und ambulant niedergelassenen Ärzten vernetzt werden Denn Trauerbegleitung in ihrer gesamten Bandbreite hat nachweislich präventiven Charakter.

(Quelle: Deutsche Gesellschaft für Pallativmedizin)